Der gewöhnliche Faschismus - Relektüre historischer Bildarchive
Eine Sequenz – Zwei Relektüren

Das Verfahren der Kommentierung durch die Stimme des Autors soll abschließend noch einmal im Vergleich zweier Sequenzen aus unterschiedlichen Filmen betrachtet werden, die sich auf ein und dasselbe historische Bildmaterial beziehen. Es handelt sich dabei um dokumentarisches Material vom Baubeginn einer Autobahnstrecke in Frankfurt/Main am 22. September 1933, das sowohl in Michail Romms "Der gewöhnliche Faschismus" als auch in Hartmut Bitomskys Filmessay "Reichsautobahn" (BRD 1986) zum Gegenstand einer filmischen Relektüre wird.

Filmsequenz aus "Der gewöhnliche Faschismus"

Romm beabsichtigt, mit seinen Worten ein breiteres Publikum zu erreichen. Daher wählt er eine appellative Form der Ansprache und populäre rhetorische Figuren in der kommentierenden Beschreibung der Filmbilder. Einerseits fasst er in Worte, was auf den Bildern zu sehen ist, andererseits interveniert er in den Bilderfluss. Mit einer Ankündigung im Kommentar lässt Romm das Filmbild dreimal stoppen, zu einem freeze frame erstarren und wiederholt es dann. Durch das mehrfache Anhalten des zeitlichen Flusses wird die Faszination des im Filmbild inszenierten Gemeinschaftserlebnisses aufgebrochen, das Ritual erfährt eine Punktierung und das Pathos erhält komische Züge. In der übertriebenen Häufung des Motivs des Schippens steigert sich die Sequenz zu einer satirischen Entlarvung des Führerkults: Hitler wird mit Göring, Heß und dann mit einem ganz unbedeutenden Parteiführer in eine Reihe gestellt und erscheint somit als ein Element unter Vielen in einer nivellierenden seriellen Struktur.

Filmsequenz aus "Reichsautobahn"

Bei dem Film "Reichsautobahn" des deutschen Filmemachers Hartmut Bitomsky handelt es sich um einen Essay-Film, der einen kleineren Kreis von intellektuellen Zuschauern adressiert. Seine Bildbeschreibung im Kommentar ist dementsprechend nachdenklicher – beinahe wie in einem Selbstgespräch – intoniert. Bitomsky zielt auf eine Bildanalyse: Er beschreibt Bewegungschoreografien und rückt auch Nebensächlichkeiten in den Blick. Dabei konfrontiert er den Mythos, der sich in diesen Bildern verdichtet, mit ihrer faktischen, historischen Deskription. Auch er lässt das Filmbild anhalten: allerdings nicht in einem freeze frame, sondern mittels eines Medienwechsels. Die filmische Sequenz wird in eine Abfolge fotografischer Einzelbilder zerlegt, wobei die Fotografien in ihrer besonderen Materialität als Papierbilder vorgeführt werden. Der Autor selbst nimmt einen Stapel von Fotografien in die Hand und entwickelt im Durchblättern seinen Kommentar.

Die vom Autorenkino und von der gegenwärtigen Bildwissenschaft geforderte kritische Reflexion massenmedialer Bilder hat Michail Romm bereits in den 1960er Jahren durch den Einsatz von Montage und Stimme realisiert und damit im Genre des Kompilationsfilms eine Tradition subjektiver Intervention begründet.

Ein Projekt des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs "Medien und kulturelle Kommunikation", Universität zu Köln
Konzept und Texte: Wolfgang Beilenhoff, Sabine Hänsgen. Onlineredaktion: Thomas Waitz
Impressum – Bildnachweise