Der gewöhnliche Faschismus - Relektüre historischer Bildarchive
Filmische Verfahren

Textinsert "Kapitel VIII" aus "Der gewöhnliche Faschismus"

Exemplarisch lassen sich Montage und Kommentierung durch die Stimme des Autors als spezifisch filmische Verfahren der Relektüre anhand von "Kapitel VIII" aus "Der gewöhnliche Faschismus" verdeutlichen. Es thematisiert das Kultbild des Führers, das als Medium der Selbstinszenierung im Zentrum der nationalsozialistischen Bilderpolitik stand. Die Sequenz setzt mit dem Textinsert "Kapitel VIII. Über mich selbst" ein. In der russischen Originalversion lesen wir und hören zugleich: "'Meine Mutter war eine einfache Frau, aber sie hat Deutschland einen großen Sohn geschenkt.' (Adolf Hitler)". In der DDR-Version lesen wir das Zitat, in der BRD-Version ist es im Kommentar zu hören.

Versionenvergleich: "Kapitel VIII"

Sowjetische Version

DDR-Version

BRD-Version

Organisiert wird die Sequenz durch die Montage der Attraktionen, die Romm in Rückbezug auf Sergej Eisenstein als kontrastierende Anordnung überraschender, schockierender, affektbesetzter Bilder versteht. Die serielle Reihung unterschiedlichster Einzelporträts Hitlers und die damit verbundene absurde Anhäufung gleichförmigen Materials führen zu einer ironischen Hyperbolisierung des Führerbildes. Auf diese Weise wird das Image, das der Zuschauer von einem politischen Führer hat, gebrochen.

Serielle Einzelportraits Hitlers

Die mediale Vivisektion des Führerbildes verdankt sich darüber hinaus der Differenz von Bild und Ton. Es gab eine ausführliche Diskussion darüber, wie und mit wessen Stimme der Film vertont werden sollte. Das Spektrum reichte dabei von dem offiziösen Radio-Sprecher Juri Lewitan über den zeitgenössischen Schauspieler Innokenti Smoktunowski bis zu dem deutschen Schauspieler und Sänger Ernst Busch. Diese traditionelle Kommentarpraxis über eine fremde professionelle Stimme wurde jedoch verworfen. Wir hören keine "voice of God" (Bill Nichols), die mit absoluter Autorität aus dem Off die Bilder steuert. Auch das damals aufkommende Zeitzeugeninterview findet keine Verwendung. Wir hören vielmehr eine Stimme, die sich zwischen den konventionellen Registern bewegt und in Abkehr von der Norm sich als Stimme des Autors selbst erweist.

Vgl. Bill Nichols: The Voice of Documentary, in: ders. (Hg.): Movies and Methods. Volume II, Berkeley u.a. 1976, S. 258-273.

Michail Romm bei der Aufzeichnung des Kommentartextes

In dieser Sequenz ist es eine ironisierende Stimme, die sich als Gegenstimme zu Hitlers Stimme inszeniert. Diese Gegenstimme zeichnet sich nicht nur durch ihr vielfältiges Klangregister aus, sondern auch dadurch, dass sie die Person, über die sie spricht, vereinnahmt, indem sie vom Beginn dieser Sequenz an statt ER – ICH intoniert, indem sie von Hitler nicht als ER spricht, sondern ICH sagt.

Die pronominale Verschiebung vom erwarteten ER zum paradoxen ICH erzeugt jene Ambivalenz zwischen analytischer Distanz und persönlicher Involviertheit, die die mediale Voraussetzung einer ironischen Usurpierung der Figur Hitlers durch den Autor und Erzähler Romm darstellt.

Michail Romm und Martin Flörchinger im DEFA-Synchronstudio

Welche Implikationen dieser Verschiebung eigen sind, zeigt sich an den Synchronisationen. Sowohl in der DDR- als auch in der BRD-Synchronisation wurde die Stimme des Autors durch eine für das jeweilige kulturelle System repräsentative Schauspielerstimme ersetzt: Martin Flörchinger (Brecht-Schauspieler am Berliner Ensemble) spricht den Kommentartext in der DDR- und Martin Held (Beckett-Schauspieler am Berliner Schillertheater) in der BRD-Synchronisation.

Im Unterschied zur DDR-Synchronisation. wurde die pronominale Verschiebung vom ER zum ICH in der BRD-Synchronisation weniger konsequent nachvollzogen. Daher heißt es hier auch nicht: „Ich – im Hintergrund die Berge“, "Ich – im Hintergrund das Meer", "Ich und ein Eichhörnchen" usf., sondern in der Tradition auktorialer, Distanz wahrender Kommentierung: "Er und das Gebirgspanorama", "Er und das Meerespanorama", "Er und ein Eichhörnchen" usf.

Ein Projekt des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs "Medien und kulturelle Kommunikation", Universität zu Köln
Konzept und Texte: Wolfgang Beilenhoff, Sabine Hänsgen. Onlineredaktion: Thomas Waitz
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