Der gewöhnliche Faschismus - Relektüre historischer Bildarchive
Entstehungsgeschichte

Juri Chanjutin, Maja Turowskaja

"Der gewöhnliche Faschismus" hatte eine spannungsvolle Entstehungsgeschichte. Zwei junge Filmkritiker, Juri Chanjutin und Maja Turowskaja, wandten sich nach intensiver Sichtung des Materials aus dem Reichsfilmarchiv mit einem Drehbuchentwurf an Michail Romm. Darin war vorgesehen, dokumentarisches Filmmaterial mit Zitaten aus deutschen Spielfilmen der zwanziger und dreißiger Jahre zusammenzumontieren. In Anknüpfung an Siegfried Kracauers Buch "Von Caligari zu Hitler" sollten auf diese Weise die psychologischen Dispositionen des deutschen Durchschnittsbürgers in die filmische Reflexion über den Faschismus einbezogen werden. Michail Romm bestand jedoch auf der ausschließlichen Verwendung von Dokumentarmaterial: "Mimik, Maske, Dekoration – alles entlarvte eine verlogene und antiquierte Kunst, deren Dramatik lächerlich wirkte. Ich konnte das nicht mehr ernst nehmen."

Einstellung aus Michail Romms "Lenin im Oktober", SU 1937

Romm strebte einen Bruch mit jenen theatralischen Inszenierungsformen an, über die er in seinen Spielfilmen "Lenin im Oktober" ("Lenin v oktjabre", SU 1937) und "Lenin im Jahre 1918" ("Lenin v 1918 godu", SU 1939) nicht nur Leninkult, sondern auch den Stalinkult im sowjetischen Kino etabliert hatte. "Der gewöhnliche Faschismus" ist also nicht nur ein Kompilationsfilm über den Nationalsozialismus, er kann zugleich als eine Auseinandersetzung Michail Romms mit der eigenen Vergangenheit als Regisseur in der Stalinzeit, als eine Art "filmische Reue" angesehen werden.

Was Michail Romm offensichtlich herausforderte, war die Möglichkeit, über eine filmische Relektüre des deutschen Dokumentarmaterials eine neue analytische Perspektive auf den traumatischen Komplex der totalitären Vergangenheit zu entwickeln.

Zu diesem Zweck wurde in einem ersten Schritt das umfangreiche Material nach Themen sortiert:

"Es kamen 120 Themen zusammen. Wir sammelten so: Großaufnahmen von 'Sieg Heil'-Brüllenden, Großaufnahmen von Schweigenden, Großaufnahmen von Nachdenklichen. Hitlerreden, laufende Massen, schreiende Massen, Leichen, Kriegsalltag, Konzentrationslager, Paraden, Aufmärsche, Stadion, Hitlerjugend, Verwundete – kurz – 120 Themen. Das Material für jedes dieser Themen entstammte etwa 20 bis 30 Quellen, und es kam ein riesiges 'Massiv' zusammen."

Zitat aus: Michail Romm: Ich hatte noch einmal Glück …, in: Der gewöhnliche Faschismus, Berlin: Vorwerk 8 2009

Einstellungen aus "Der gewöhnliche Faschismus"

Ein Projekt des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs "Medien und kulturelle Kommunikation", Universität zu Köln
Konzept und Texte: Wolfgang Beilenhoff, Sabine Hänsgen. Onlineredaktion: Thomas Waitz
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