SFB/FK-427 Medien und kulturelle Kommunikation
Spektakel der Normalisierung
Konferenz des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs "Medien und kulturelle Kommunikation" (SFB/FK 247) in Kooperation mit der Emmy Noether-Forschungsgruppe "Kulturgeschichte des Menschenversuchs" (Universität Bonn)
27. und 28. April 2006
Universität zu Köln, Hauptgebäude, Albertus-Magnus-Platz, Neuer Senatssaal
Konzept
Die Tagung Spektakel der Normalisierung wird Normalisierung als eine der wesentlichen Regulierungskräfte moderner Gesellschaften besonders im Zusammenhang ihrer medialen Praktiken diskutieren. Mediale Vermittlung spricht dabei zweierlei an: einerseits verschiedene 'Ordnungen der Sichtbarkeit', die das Normale zur Erscheinung bringen und andererseits die Effekte der medialen Architekturen selbst, die normalisieren, indem sie dem wahrnehmenden Subjekt eine bestimmte Position zuweisen bzw. 'normative Subjektivitätsmodelle' (Johnathan Crary) als ihre Funktion allererst erzeugen.
Die Tagung geht davon aus, dass die weithin verbreitete Annahme, "Normalismus [sei] wesentlich Statistik und Durchschnittskalkül sowie […] Selbstregulierung der Subjekte auf Durchschnitte hin" (Jürgen Link), insofern einzuschränken ist, als Statistiken, Kurven und Diagramme nur eine Darstellungsform des Normalen unter vielen sind, denen unzählige andere gegenüber stehen, die eben nicht vom Durchschnitt, sondern vielmehr vom 'Anderen', von den Grenzen und Rändern des Normalen ihren Ausgang nehmen. Das Normale zeigt sich zum einen mittels der Inszenierung seiner epistemologischen Gegenteile - mittels des Anormalen, des Pathologischen, der Ausnahme. Es erscheint in Form dessen, was es nicht ist, indem ein Raum erzeugt wird, der das Normale im Jenseits des Nicht-Normalen ansiedelt. Erst die Krankheit stellt ein Konzept dessen, was ein normal funktionierender, ein gesunder Körper ist, zur Verfügung. Erst der Irre oder der Delinquent machen deutlich, wie sich das Verhalten normaler Subjekte zu gestalten hat. Zum anderen erfordert das 'Vor-Augen-Stellen' des Normalen den Rückgriff auf den Einzelfall, das Exemplum, welches - so gewöhnlich oder normal es sich auch darbieten mag - doch niemals den gesamten Normalbereich, den Bauch der Gaußschen Kurve zu repräsentieren vermag. Soll der Einzelfall als Ideal des Normalen Wirksamkeit haben und massenmedial funktionalisierbar sein, wird er sogar häufig derart spektakularisiert, dass er als normal lediglich durch entsprechende Postulate erkennbar ist. Das Normale kann nicht als Normales Aufmerksamkeit binden bzw. überhaupt sichtbar werden, sondern nur dann, wenn es als Spektakel in Erscheinung tritt.
Sektion 1: Das Maß der Mitte
Wird das Normale auf der einen Seite negativ durch seine Grenzen und durch Inszenierungen der Ausnahme als leere Mitte konstituiert, scheint Normalisierung gleichzeitig stets die Plausibilität und Vorstellbarkeit dessen vorauszusetzen, was konkret in dieser Mitte liegt. Unter der Überschrift Das Maß der Mitte soll deshalb gefragt werden, ob nicht nur die Extreme, sondern auch das Normale selbst - die Mitte - als Spektakel vor Augen geführt wird: Muss nicht auch die Mitte attraktiv gemacht und zugleich mit inneren Differenzierungen und unterschiedlichen Optionen versehen werden? Zentrale Instanz für eine solche Sichtbarkeit des Mittleren sind die Massenmedien. Die Orientierung an Quoten und die den Alltag strukturierenden Programmschemata funktionieren offenkundig normalistisch. Zu diskutieren ist aber, wie massenmediale Inszenierungsformen und Beobachtungsdispositive auch jenseits statistisch messbarer Durchschnitte der Mitte Profil gewinnen. Erheben sie schlicht nur gesellschaftlich schon vorhandene oder produzieren sie - ggf. auch kontrafaktisch - medienspezifische Normalitäten? Medien sind dann nicht nur "Frühwarnsysteme" drohender Denormalisierungen, sondern geben der Gesellschaft ein Maß - oder eine Idealnorm? - ihrer Mitte. Daran knüpft die Frage an, inwiefern sich im massenmedialen Spektakel der Mitte normative und normalisierende Verfahren verbinden - sei es durch die Inszenierung von Massen bei Übertragung von Großereignissen (Fußballweltmeisterschaft bis Live8), sei es durch die Präsentation individuellen Lifestyles etwa in Werbung oder Videoclips.
Sektion 2: Pathologien des Experiments
Die Relation zwischen spektakulären Einzelbeobachtungen und Normalisierungsbestreben lässt sich auf besonders anschauliche Weise anhand lebenswissenschaftlicher Experimente studieren: In Versuchen am Menschen stellt sich zum einen die Frage, wie die jeweils singulären Ergebnisse zu generalisieren sind. Zum anderen ist zu problematisieren, inwiefern die Beobachtung natürlicher und damit normaler Prozesse und Verhaltensweisen möglich sein kann, wenn normierte Messgrößen und -apparaturen, die Standardisierung von Laboratorien und anderer Infrastrukturen, wissenschaftliche Organisationsformen sowie die kulturelle Ein-bettung experimentellen Forschens überhaupt die beobachteten Objekte normalistisch formatieren.
Innerhalb dieses Spannungsfelds zwischen Einzel- und Regelfall auf der einen, Normalität und Normalismus auf der anderen Seite gilt das Interesse der Sektion vor allem der Epistemologie des Pathologischen, welche in Menschenversuchen zu Tage tritt: Welcher Renaturalisierungsstrategien bedienen sich Medizin und Psychiatrie, wenn sie vom Ausnahmezustand der Krankheit auf normale physiologische Abläufe schließen? Wie lassen sich die disziplinierenden Effekte von Versuchen an Menschen (und damit der Zusammenhang von Normalisierung und Kontrolle) beschreiben, wenn diese im Experiment an die technischen Bedingungen des Labors oder der simulierten Natürlichkeit sozialpsychologischer Versuche angepasst werden? Welche Kriterien leiten dabei die Auswahl von Versuchspersonen? Und wie verhält sich die Wahrnehmung des Menschenversuchs als spektakuläre Instrumentalisierung des Individuums zum Alltag klinischer Therapieversuche bzw. anhand welcher Kriterien ließen sich 'normale' von 'pathologischen' Experimenten unterscheiden?
Sektion 3: Ausnahmestandards
Auch die spektakuläre Inszenierung von Extremen, Abweichungen oder Ausnahmen kann Normalität produzieren. Das Normale wird in diesem Fall als Abwesenheit von Pathologien bestimmt und bleibt so selbst unsichtbar. Die Sektion Ausnahmestandards fragt, wie Ausnahmen generiert und fortgeschrieben werden. Inwiefern sind bei Verfahren, die die Ränder und das Gegenüber des Normalen sichtbar machen, Standardisierungen am Werk, die eine nachträgliche Normalisierung der Ausnahme vornehmen?
Die Sektion interessiert sich hierbei vorrangig für die Effekte der Ausnahme auf Normalität und untersucht, wie das Normale durch verschiedene Positionierungen zu der Ausnahme hergestellt werden kann. Einerseits können Ausnahmen explizit reguliert werden, indem sie durch statistische Verfahren oder durch Zuschreibungen in den Normalbereich einbezogen werden. Zwischen dem Pathologischen und dem Normalen bestehen dann keine kategorialen Differenzen mehr, sondern Überlappungszonen. Anstelle von Ausnahme und Normalität ergibt sich dann ein fließender Übergang zwischen Rand- und Kernbereich. Andererseits werden parallel zu diesen Prozessen durch Grenzmarkierungen zur Normalität Andersartigkeiten festgelegt und damit normative Unterscheidungen getroffen. Hierzu werden meist quantitative Verfahren (Tests, Gutachten und andere Diagnoseverfahren) eingesetzt und auf diese Weise Ausnahmegruppen innerhalb der Gesellschaft sichtbar gemacht.
Innerhalb dieser Gruppen entwickeln sich wiederum eigene soziale Netzwerke, die nicht nur von außen durch Diagnosen und Interventionsmaßnahmen, sondern auch intern durch mediale Praktiken und kommunikative Binnenstrukturen konstituiert sind. Auch hier werden wiederum Ausnahmen inszeniert und auf diese Weise Normalität bestimmt. Fraglich ist aber, ob sich in diesen Randbereichen auch Gegenmodelle zur Normalität herausbilden können oder ob lediglich andere Grenzmarkierungen entstehen.
Programm
Donnerstag, 27. April 2006
14.00
Begrüßung Ludwig Jäger (Aachen/Köln)
Sektion 1: Das Maß der Mitte
Moderation: Isabell Otto (Köln) / Markus Stauff (Köln)
14.30
Christina Bartz (Köln):
Außergewöhnliche Geschichten von normaler Mediennutzung
15.30
Matthias Thiele (Dortmund):
BOULEVARD und MAGAZIN der Normalen und der Nicht-Normalitäten
16.30 K a f f e e p a u s e
17.00
Michael Gamper (Zürich):
Emergenz der Mittelmäßigkeit: Cousin, Quetelet, Toqueville und der literarische Realismus
18.15 K e y n o t e
Michael Hagner (Zürich):
Die Normalisierung der Monstrositäten oder: wie monströs ist das Normale?
Freitag, 28. April 2006
Sektion 2: Pathologien des Experiments
Moderation: Nicolas Pethes (Bonn)
09.30
Martin Stingelin (Basel):
Die 'Sudelbücher' von Georg Christoph Lichtenberg in der Begegnung mit den Notizheften von Friedrich Nietzsche als Ort(e), wo Experiment und Normalismus sich (nicht unabhängig voneinander) begegnen
10.30 K a f f e e p a u s e
11.00
Katja Sabisch (Bielefeld/Bonn):
"Frauen, als Infectionsherd betrachtet" - Zur Experimentalisierung, Pathologisierung und Pathogenisierung des Weibes im 19. Jahrhundert
12.00
Marcus Krause (Köln/Bonn):
Ultraparadox. Zur Schwerkraft des Menschenexperiments bei Pavlov, Watson und Pynchon
13.00 M i t t g s p a u s e
Sektion 3: Ausnahmestandards
Moderation: Wiebke Iversen (Köln)
14.30
Thomas Kailer (Gießen):
Fragmentierung und Normalisierung des Verbrecherkörpers. Ausnahmestandards in der kriminologischen Untersuchung, 1923-1945
15.30
Susanne Krasmann (Hamburg):
Folter im Ausnahmezustand
16.30 K a f f e e p a u s e
17.00
Cornelia Epping-Jäger (Köln):
Normalisierungszonen. Stimmfindung im Ausnahmezustand
18.00
Luise Springer (Köln):
Normale Kranke - Selbstinszenierung und Symptomzuschreibung in der Sprachpathologie
19.00
Abschlussdiskussion: Irmela Schneider (Köln)
Veranstaltungstyp: Konferenzen
Zuletzt geändert am 09. Mai 2007 um 11:33 Uhr - Kontakt - Login zum Bearbeiten