SFB/FK-427 Medien und kulturelle Kommunikation
Forschungsprogramm Förderphase III (2005-2008)
Medien als Formationssysteme
Die vielfältig erprobte operative Begrifflichkeit zur Analyse der "Verfahren der Medien" soll in der dritten Förderphase des Forschungskollegs (2005-2008) systematisch genutzt werden, um historisch wie systematisch unterschiedliche Register medialer Sichtbarmachung und Aufmerksamkeitssteuerung im Hinblick auf ihre kommunikative und kulturelle Leistung zu erforschen. Wir sprechen von unterschiedlichen Registern medialer Sichtbarmachung, um dem Eindruck entgegenzutreten, als handele es sich bei diesem Vorhaben einmal mehr um den Nachvollzug der in den letzten Jahren häufig gestellten Diagnose eines pictorial oder iconic turn.
Die Macht der Bilder ist nicht neu, wenn Bilder auch zweifellos in neuen medialen Formaten begegnen, man denke etwa an das medien- und kulturtheoretisch vieldiskutierte Beispiel der Computervisualistik. Sichtbarmachungs- und Evidenzverfahren adressieren keineswegs ausschließlich den Gesichtssinn. Sie basieren auch nicht auf einer Anthropologie oder 'Phänomenologie der Wahrnehmung', in deren Rahmen die Verfahren der technisch-apparativen Delegierung des Sichtbarmachens kaum angemessen behandelt werden können. Mit dem Konzept der Sichtbarmachung beziehen wir uns also auf die Gesamtheit der medialen Verfahren, in denen etwas zum Vorschein gebracht oder vorgezeigt und auf diese Weise allererst zu einem Phänomen wird, das kommunikative Aufmerksamkeit bindet und soziale Handlungsmacht aktiviert. Über die geläufigen visuellen Verfahren hinaus sind also insbesondere auch die sprachlich-medialen Verfahren der Ostension, der Demonstration, der Exemplifikation sowie der rhetorischen Hypotypose zu berücksichtigen. Medien formieren einen Raum, in dem 'etwas' zur Erscheinung kommen kann – gemeinsam mit den Beobachtungs- und Zugriffsmöglichkeiten, denen es sich anbietet, also den Subjektpositionen und den mit ihnen verbundenen Beobachtungschancen und Handlungsoptionen.
Die Medialität der Sichtbarmachung bringt sich in der Selektivität dessen zur Geltung, was sie zu sehen gibt bzw. auftauchen oder erscheinen lässt. Sie wird indirekt erfahrbar an dem, was sie in den Bereich des Unsichtbaren oder der Latenz abdrängt. Ein fruchtbarer Gebrauch des Konzepts der Sichtbarmachung steht und fällt daher mit der Einbeziehung von Gegenbegriffen, die die Lücken, Brüche, blinden Flecken und Widerständigkeiten, mit einem Wort: die Störungen in dem, was jeweils medial zur Anschauung gebracht wird, erkennbar bzw. lesbar werden lassen. Störungen sind aber nicht nur mediale 'Ausfallerscheinungen', sondern werden durch bestimmte Beobachtungen und Beschreibungen medialer Operationen regelrecht provoziert. Mediendiskurse, die solche Beobachtungen und Beschreibungen organisieren, sind untrennbar gebunden an die Diagnose, also an die Sichtbarmachung von Störungen und damit an die Institiuierung von autorisierten Beobachterpositionen sowie an die Formulierung und Durchsetzung von Normen, deren Verletzung den Störfall allererst erkennbar macht und Handlungsbedarf signalisiert.
Visual Culture
Was den vormaligen linguistic mit dem heutigen pictorial turn verbindet, ist die Forderung, an die Stelle einer vorschnellen Bedeutungszuweisung isolierter sprachlicher oder visueller Fakten die Frage nach ihrer kommunikativen Funktion im Hinblick auf die Ausübung von Handlungsmacht zu stellen. Um diese Frage beantworten zu können, gilt es, die Bilder aus dem engen theoretischen Bezugsrahmen von Mimesis, Illustration und Repräsentation zu lösen und sie in dem Netzwerk von Apparaten, Institutionen, Körpern und nicht zuletzt auch: Diskursen zu verankern, aus deren differentiellem Zusammenspiel der jeweilige Status von visuellen Ereignissen resultiert, deren Bestimmung auch die systematische Berücksichtigung der Position des betrachtenden Subjekts verlangt.
Es empfiehlt sich, das Problem der Handlungsmacht der Bilder in den Bildern selbst zu lokalisieren, deren spezifischer Mehrwert darin besteht, über die Erzeugung von neuen Blick- und Beobachtungsverhältnissen sowie verschiedensten Verfahren der Aufmerksamkeitssteuerung Individuen ebenso wie Kollektive zu adressieren und damit allererst kommunikativ zu formieren. Werden Bilder gesehen und sofort vergessen oder besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sie weiterleben, sich reproduzieren und sich dabei neue, überraschende Formen entwickeln und Verbindungen zu anderen Medien eingehen, lautet die Frage einer Bildforschung, die die Analysen der pikturalen Repräsentationstechniken und der zum Einsatz kommenden Codierungen auf das übergreifende Problem der Bildkommunikation, also der mit und durch Bilder vollzogenen sozial folgenreichen Akte bezieht. Sichtbarmachung wird daher von uns nicht als eine intrinsische Eigenschaft von Bildern aufgefasst, die ihnen immer schon zukommt. Sie manifestiert sich vielmehr in der Fähigkeit von Bildern, sich – über Mediengrenzen hinweg – 'fortzuschreiben', also in ihrem transkriptiven Potential und ihrer kulturellen Adressierungsleistung.
Anders als in den vielfach geschichtsphilosophisch grundierten Aussagen über eine säkulare Zunahme der Bedeutung von Bildern und Visualisierungspraktiken beharren wir allerdings darauf, dass es Kulturen der Sichtbarkeit nur im Plural gibt. Nur so lässt sich eine problematische Asymmetrisierung von Kulturen im Hinblick auf die Bedeutung von Bildern vermeiden. Sie verbietet sich für uns schon aus Gründen der systematischen Berücksichtigung auch vormoderner (etwa mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher) und außereuropäischer (in unserem Fall: afrikanischer) Medienkulturen.
Sichtbarkeiten und Sagbarkeiten
Das Forschungskolleg betrachtet das Sehen als eine historisch-kulturelle Variable, es bezieht das jeweils Gesehene auf den Möglichkeitsraum des Sichtbaren und damit auf ein Kommunikations- und Handlungsfeld, eine diskursive Ordnung, die ihrerseits nicht unmittelbar wahrnehmbar und daher nicht mit den Objekten, Dingen oder Sinnesqualitäten zu verwechseln ist. Die Bedingung, auf die die Sichtbarkeit sich beruft, ist nicht die Sichtweise eines Subjekts; vielmehr ist das sehende Subjekt "seinerseits eine Stelle innerhalb der Sichtbarkeit, eine abgeleitete Funktion der Sichtbarkeit"1. Im Anschluss an Michel Foucault begreifen wir das Sichtbare so wie die Macht dessen, was gesagt wird, als abhängig von bestimmten Prozeduren und Regularien, die im Gesehenen selbst nicht sichtbar werden, sondern nur im Ausgang von ihm erfasst werden können. Gegen die nicht nur akademische Versuchung einer dominant linguistischen oder textualistischen Perspektive auf die Kultur (und gerade auch, wie das Beispiel der Filmanalyse zeigt, auf ihre Bilder) helfen weder eine Phänomenologie der Wahrnehmung noch auch die Beschwörung der ewigen Werte des Imaginären. Das Forschungskolleg schließt daher an Überlegungen Foucaults an, der eine kulturelle Epoche als ein audio-visuelles Archiv, als ein Zusammenspiel von Diskurs und Figur analysiert, dessen Grundregel lautet: Was man sieht, liegt nie in dem, was man sagt und umgekehrt. Das Erscheinenlassen einer Form ist irreduzibel auf die Formulierung einer Aussage.
Seit den Anfängen der rhetorischen Theoriebildung ist auf die spezifische Machtwirkung des Vor-Augen-Stellens hingewiesen worden. Die Sichtbarkeit verweist von vornherein auf bestimmte Ordnungen, Dispositive und Anweisungen, die regeln, was überhaupt gesehen werden kann. Sie schließt daher ein reines Sehen oder eine unmittelbare Wahrnehmung, von der man glaubt, dass sie sich einstellt, wenn man die Augen öffnet, aus. Ebenso wenig wie es Medien in einem überhistorisch stabilen Sinne gibt, kann daher von Bildern in einem von medialen Dispositiven und Handlungsgefügen absehenden Sinne gesprochen werden. Die Sichtbarkeit der Dinge ist keine fraglos gegebene Qualität, die ihnen 'anhaftet', sie wird vielmehr an bestimmten Stätten (z.B. Laboratorien für die Wissenschaften, statistische Büros für die Politik) erzeugt und verwaltet sowie einer bestimmten diskursiven Rahmung unterworfen, die darüber entscheidet, welche Handlungsmächtigkeit (agency) ihnen zuwächst. Und was für die Produktion der Bilder gilt, die an bestimmten Orten der Sichtbarmachung stattfindet und unter Umständen mit einem enormen materiellen und personellen Aufwand verbunden ist, gilt auch für ihre Rezeption. In dem Maße, in dem sich der Raum der technischen Aufzeichnung unsichtbarer bzw. 'unwahrnehmbarer' Phänomene erweitert, stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit bzw. der Autorität von Bildern, für die kein (menschliches) Korrektiv zur vergleichenden Betrachtung zur Verfügung steht.
Evidenzverfahren
Statt Evidenz, wie in der neuzeitlichen philosophischen Tradition weithin üblich, als spezifische Leistung des Bewusstseins zu betrachten, halten wir es für ergiebiger, an den antiken rhetorischen Theoriekontext anzuschließen, in dem die Techniken des Vor-Augen-Stellens von vornherein auf kommunikative (vor allem: sprachliche) Prozesse bezogen waren. Mit dem für uns maßgeblichen Begriff von Evidenz stellen wir auf zweierlei ab:
- einerseits auf die Erzeugung der Evidenz durch die Invisibilisierung des zu ihrer Herstellung nötigen Verfahrens, das gewissermaßen im Effekt verschwindet
- andererseits auf die Erzeugung der Evidenz durch die Ausstellung des Verfahrens etwa in der Politik oder vor Gericht, aber auch in Ritualen oder künstlerisch-performativen Beglaubigungsstrategien
Die Evidenzverfahren können die soziale Beglaubigungswirkung, auf die sie abzielen, allerdings auch torpedieren. Darin liegt ihre Dialektik. Exemplarische Evidenzgeneratoren wie die Verfahren der Rekurrenz, der Serialisierung, der Paraphrasierung und Rhythmisierung, die im Forschungskolleg unter dem Stichwort der "Praktiken des Sekundären" erforscht werden, erschöpfen sich nicht nur darin, Sinnformen zu fixieren und zu stabilisieren. Medien bringen nicht nur etwas zur Erscheinung, was ohne ihre Mithilfe sich jeder Sichtbarkeit entzöge; sie bringen auch sich selbst zur Erscheinung, nämlich immer dann, wenn sich die latent gehaltenen medialen Inszenierungsbedingungen von Sinn in ihrer Faktizität aufdrängen und die Aufmerksamkeit von der Ebene des Mediatisierten auf das Medium selbst, also auf die Rahmungen, dispositiven Strukturen und habitualisierten Gebrauchskontexte der mediatisierten Objekte, die deren soziale Geltung garantieren, verlagert wird.
Medien, Handlungsmacht und Agency
Medien, wie sie das Forschungskolleg thematisiert, haben den Status von Hybriden oder Quasi-Objekten (Michel Serres), denn sie entziehen sich der für die moderne (cartesianische) Epistemologie maßgeblichen Alternative von bloßen Dingen oder 'Fakten' und sinngebenden Subjekten und damit einer einseitigen, der Differenz von Subjekt und Objekt entsprechenden Verteilung und Fixierung von Aktivität und Passivität, agency und patienthood, also Handelnden und 'Behandelten'.2 Medien in diesem Sinne umfassen Vermittler aller (d.h. nicht nur menschlicher) Art, für die charakteristisch ist, dass sie eine Form von Handlungsmacht (agency) ermöglichen, die nicht länger auf die ursprüngliche Initiative eines 'sprach- und handlungsfähigen Subjekts' zurückzuführen ist. An die Stelle eines subjektzentrierten Handlungsbegriffs, wie er für die Moderne typisch ist, lenkt die Medienforschung die Aufmerksamkeit auf Funktionsweisen der Netzwerke mit 'verteilter Handlungsmacht', die soziale und kulturelle Macht als das Ergebnis einer fortwährenden Übersetzungs- und Übertragungsaktivität zu konzipieren erlauben, an der unabsehbar viele Akteure – und zwar nicht nur in der Rolle der Handelnden, sondern ebenso in der der 'Erleidenden'/Affizierten – beteiligt sind, ohne deren Vermittlung keine identifizierbare Handlung zustande käme. Wir wollen die Untersuchung der Strategien medialer Sichtbarmachung dadurch schärfen, dass wir systematisch nach ihrer sozialen und kulturellen Mobilisierungskraft fragen.
Medien markieren eine Funktionsstelle innerhalb weit ausgreifender Netzwerke mit verteilter Handlungsmacht. In eine solche Funktionsstelle kann prinzipiell jedes Ding und jede Person einrücken und zeichenmediale Wirksamkeit entfalten. Wir schränken daher den Medienbegriff nicht auf 'technische Medien' ein, wie vielfach vorgeschlagen wird, sondern beziehen ausdrücklich auch den Körper der Kommunizierenden bzw. der "Zeichenvermittler" als einen 'medialen Kandidaten' in unsere Forschungen ein. Medien und Kommunikation, die Leitbegriffe des Forschungskollegs, wollen ein Feld eröffnen, auf dem Handlungs- und Aushandlungsprozesse den Blick auf die Kontingenz bestimmter Institutionalisierungen von Handlungsmacht, auf ihre Ereignishaftigkeit und damit zugleich auch: auf die Reversibilität der mit dieser Macht verbundenen Zuschreibungen ('Agent'/'Patient') freigeben. Der von uns medientheoretisch gewendete agency-Begriff richtet sich insbesondere auf die Übergänge und die Mischungen zwischen Dingen, Personen und Zeichen, also auf alle Vorgänge, in denen ihnen situativ agency oder patienthood, Handeln oder Behandeltwerden attribuiert wird.
Der Begriff von Medienkultur, der den Arbeiten des Forschungskollegs zugrunde liegt, versucht der Unmöglichkeit Rechnung zu tragen, die Ressourcen der Handlungsmacht entweder in der Natur oder in der Semiosis oder der Sozialität zu verorten. Der Medienbegriff umspannt daher die großen Trennungen zwischen den ontologischen Feldern (Naturalität, Sozialität, Diskursivität): Medien begegnen zweifellos auch als Dinge, materielle Techniken und greifbare Apparate mit physischer Struktur und Oberfläche; sie sind darüber hinaus aber gleichzeitig auch Repräsentationsformen, Techniken der Erzeugung und Verarbeitung von Sinn und Bedeutung; und sie bringen, als Kommunikations- und Verbreitungsmedien, den Raum der kollektiven wie individuellen Adressierung hervor, der die Bedingungen der sozialen Erreichbarkeit und damit: die Grenzen der Gesellschaft und ihrer Macht definiert. Wenn Gesellschaften daher aus Kommunikationen bestehen, dann trifft diese Einsicht, wie wir denken, nur unter der Bedingung zu, dass man das Feld der Kommunikation nicht auf Beziehungen zwischen menschlichen Akteuren einschränkt, sondern auf Kollektive (im Sinne der neueren Wissenschaftsgeschichte) erweitert, die Menschen und nicht-menschliche Wesen umfassen, also Götter und Geister ebenso wie technische Artefakte und kollektivsymbolisch erzeugte Größen wie Nationen und andere imagined communities.
(1) Gilles Deleuze: Die Schichten oder historischen Formationen: Das Sichtbare und das Sagbare (Wissen), S. 69-98, hier: S. 82.
(2) Zur umfangreichen agency-Literatur vgl. insbesondere die medientheoretisch fruchtbar zu machenden wissenschaftsgeschichtlichen und ethnologischen Arbeiten von Alfred Gell Art and Agency. An Anthropological Theory sowie – im Grunde das Gesamtwerk – von Bruno Latour, insbesondere aber "Give Me a Laboratory and I Will Raise the World", in: Mario Biagoli (Hg.): The Science Studies Reader, London/New York 1999, S. 258-275 sowie "On Actor-Network Theory: A Few Clarifications", in: Soziale Welt 4/47 (1996), S. 369-381. Vgl. auch John Law/John Hassard (Hg.): Actor Network Theory and After; Andrew Pickering: The Mangle of Practice. Agency and Emergence in the Sociology of Science, in: Biagoli (Hg.): The Science Studies Reader, S. 372-393.
Zuletzt geändert am 26. Januar 2007 um 16:10 Uhr - Kontakt - Login zum Bearbeiten